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Manager Magazin 21. Juli 2023 “Die unbekannte Nazivergangenheit des Prothesenkönigs Ottobock”)
Hans Georg Näder erzählt viel und gern über die glorreiche Historie seines Unternehmens. Öffentlich zugängliche Dokumente in Bundes- und Länderarchiven legen nahe, dass er dabei große Lücken lässt und dunkle Flecken aus der NS-Zeit ausspart.
Hans Georg Näder(61) arbeitet hart am Bild des exzentrischen Unternehmergenies. Die Haare in achtsam gepflegter Unordnung, die massige Erscheinung meist umweht von einem genauso langen wie farbenfrohen Seidenschal, regiert er den weltbedeutendsten Prothesenbauer Ottobock (rund 9000 Mitarbeiter, 1,3 Milliarden Euro Umsatz) weitgehend uneingeschränkt, überaus barock und extrem eigenwillig.
Dem Mann, auch das gehört zum Selbstbild, das er gern von sich verbreitet, wurde das Unternehmertum in die Gene gelegt. Vom Großvater Otto Bock, der die Firma, so des Enkels Heldenversion, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gründete, unbeschadet durch die Wirren der 1920er und 1930er Jahre steuerte und das einstige Start-up schließlich zum beherrschenden Anbieter in Deutschlandformte. Vom Vater Max Näder, der das Unternehmen nach der Enteignung durch die russischen Besatzer wieder aufbaute und in die Liga der global operierenden Spieler führte.
Die Kanzlerin singt eine Lobeshymne
“Ein Paradebeispiel für den deutschen Mittelstand”, lobte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel(69) Großvater, Schwiegersohn und Gründerenkel auf der Feier zum hundertjährigen Firmenjubiläum im Februar 2019 in einem Atemzug. Die Erzählung von der blitzsauberen Erfolgsgeschichte hat Näder in den Jahren danach unzählige Male wiederholt. Bis heute ist sie auf den Internetseiten des Unternehmens nachzulesen, gehört zum Grundnarrativ, mit dem Näder um die Gunst potenzieller Investoren und Geldgeber buhlt.
Unterlagen aus dem Bundesarchiv in Berlin und dem Landesarchiv Thüringen in Weimar, die manager magazin entweder vorliegen oder in die von der Redaktion Einblick genommen werden konnte, vermitteln allerdings den Eindruck, dass der Gründerenkel in seiner Version von Familien- und Firmenhistorie dunkle Stellen der Vergangenheit sorgsam ausspart. Es drängt sich vielmehr das unschöne Bild einer opportunistischen Unternehmerfamilie auf, die sich geschickt an die jeweiligen Machtverhältnisse anzupassen wusste. Und dabei offenbar auch keinerlei Berührungsängste vor den Vertretern des jeweils herrschenden Regimes kannte, weder während der Nazidiktatur, noch in den ersten Jahren der russischen Besatzung.
Schon mit seiner gängigen Schilderung der ersten Firmenjahre nimmt es Näder offensichtlich nicht allzu genau. Sein Großvater zählte zwar zu den Gründern, er gehörte aber ausweislich der im Bundesarchiv zugänglichen Dokumente zunächst nicht zu den Gesellschaftern. Das Startkapital von einer Million Mark stammte wohl überwiegend von einem Krefelder Fabrikanten, der das Unternehmen in den ersten Jahren auch führte. Otto Bock fungierte in dieser Phase wohl als Produktionsleiter und sollte erst 1924 in die Leitung des damals als Orthopädische Industrie GmbH firmierenden Unternehmens einrücken. Weitere drei Jahre dauerte es, bis er 1927 als alleiniger Geschäftsführer das Kommando übernahm. Ende Oktober 1933 ließ er die alte Gesellschaft liquidieren und zahlte die übrigen Anteilseigner aus. Erst danach trug das Unternehmen den Namen des Großvaters: Orthopädische Industrie Otto Bock in Königsee.
Fördermitglied der SS
Der Zeitpunkt für Übernahme und Umfirmierung erschien im Jahr 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, günstig. Der NSDAP erschienen Kapitalgesellschaften wegen der Anonymität ihrer Eigentümer suspekt und waren in der Partei als der Volksgemeinschaft abträglich verrufen.
Und tatsächlich verabschiedete der von der NSDAP dominierte Reichstag im Jahr 1934 ein Gesetz zur Umwandlung von Kapitalgesellschaften, das in den darauffolgenden Jahren zur Liquidierung und Umwandlung der Hälfte der damals existierenden GmbHs zu Personenfirmen führte.
Es spricht einiges dafür, dass sich Otto Bock sehr schnell, sehr komfortabel mit den neuen Verhältnissen arrangiert hat. Zum 1. Mai 1933 trat er in die NSDAP ein. Er gehörte damit zu den Zehntausenden, die in den ersten Wochen nach der Machtergreifung in Hitlers Parteiapparat drängten und später als “Märzgefallene” verspottet wurden. Nach diesem Ansturm herrschte ein Aufnahmestopp, der 1937 erst teilweise und 1939 dann vollständig aufgehoben wurde.
Im Laufe der 30er Jahre trat Otto Bock auch als Fördermitglied SS in Erscheinung für einen, wie er später ausweislich der Dokumente selbst sagte, monatlichen Beitrag von sechs Reichsmark. Diese Zahlungen will er im Laufe des Jahres 1938 wieder eingestellt haben.
Teil der Hitlerjugend
Sein künftiger Schwiegersohn Max Näder, den der Unternehmer 1935 zunächst als Praktikant eingestellt hatte, zeigte sich ähnlich anpassungsfähig. Näder war Mitglied der Hitlerjugend, obwohl er mit 19 Jahren dafür eigentlich zu alt dafür war. Als er in Berlin studierte, war er Teil des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB). Was insofern bemerkenswert ist, weil es sich beim NSDStB um keine Massen-, sondern um eine Art Eliteorganisation handelte, die Wert auf eine Aufnahmeprüfung legte.
Während des Afrikafeldzugs wurde Näder mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Die letzten Kriegsmonate verbrachte er als Betreuungsoffizier im Lazarett, wo er Verwundeten über die militärische und in engen Grenzen auch über die politische Lage zu berichten hatte. Eine Aufgabe, die vorwiegend politisch zuverlässigen Offizieren übertragen wurde.
Wie viele andere Unternehmer auch griff Otto Bock während der Kriegsjahre auf Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zurück. Das Unternehmen beteiligte sich Jahrzehnte später zwar an der Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”, die ab dem Jahr 2000 Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter leistete, räumt auch deren Beschäftigung ein, nennt aber keine Zahlen.
Rückschlüsse auf die Größenordnungen lässt lediglich die im Auftrag von Unternehmen und Familie erstellte dreibändige firmenhistorische Abhandlung “Bewegte Zeiten” zu. Dort werden ehemalige Mitarbeiter zitiert, die sich daran erinnern wollen, dass in den Jahren ab 1942 ungefähr 100 Russinnen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren in den Abteilungen Bandagen, Näherei und Holzhalle beschäftigt wurden. Sollten diese Erinnerungen zutreffen, hätte sich die Belegschaft zeitweise zu etwa einem Fünftel aus Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern zusammengesetzt.
Dabei scheinen sie nicht nur im Betrieb selbst, sondern auch im Haushalt der Familie eingesetzt worden zu sein. Dieser Schluss lässt sich jedenfalls aus den in dem Werk zitierten Briefen ziehen, die Marie Näder an ihren Mann schrieb. Es scheint der Eigentümerfamilie bei der Rekrutierung der Fremdarbeiterinnen also nicht nur darum gegangen zu sein, die Lücken zu füllen, die durch den Einzug großer Teile der männlichen Belegschaft zur Wehrmacht entstanden waren.
Ein Diener zweier Herren
Bis 1948 hielt Bock noch am Stammsitz in Königsee, Thüringen, fest und musste sich in dieser Zeit auch der Entnazifizierungskommission für den Landkreis Rudolstadt stellen, in deren Zuständigkeitsbereich auch die Firmenzentrale fiel. Die Spruchkammer sah ihn als Kriegsgewinnler sowie als Unterstützer des NS-Regimes und ordnete ihn in die Reihe der ehemaligen Faschisten und Militaristen ein, die aus den entsprechenden Posten in der Privatindustrie entfernt werden sollte.
Am Ende kam es nicht dazu, weil er sich für die Besatzer als unverzichtbar erklärte, wie aus den Archivdokumenten hervorgeht. “Nach dem Zusammenbruch habe ich sofort meine Leute wieder zusammengeholt und das Geschäft wieder aufgebaut”, ließ er in einer Protokollnotiz festhalten, die mit den eigentlichen Vorwürfen nichts zu tun hatte: “Ich habe jetzt einen großen Auftrag der Roten Armee übernommen und schon viele tausend russische Soldaten wieder auf die Beine gestellt.”
Anders als viele andere Unternehmen hat Hans Georg Näder allerdings bis heute keine unabhängige und wissenschaftlich fundierte Untersuchung über die Firmengeschichte in Auftrag gegeben oder durchführen lassen. Einen umfangreichen Fragenkatalog des manager magazins ließ er unbeantwortet.
Die kaum aufgearbeitete Vergangenheit seines Unternehmens könnte ihn und seine Familie in den kommenden Monaten noch einholen. Die 2017 mit einem Anteil von 20 Prozent eingestiegene Private-Equity-Firma EQT will verkaufen, auch Näder und seine beiden Töchter wollen ebenfalls 10 Prozent ihrer Anteile abgeben am liebsten an eine der großen, global operierenden Adressen. Eine ganze Reihe angelsächsischer Fonds könnte dabei als Interessenten ausfallen. Für sie gilt: Geld gibt es nur, wenn ein Unternehmen mit seiner Vergangenheit erkennbar im Reinen ist. Wissenschaftlich nachvollziehbar versteht sich, nicht nur im Rahmen eines in Eigenregie betriebenen History-Marketings.